Mitnehmen kann man nichts

 

Ob Urlaub oder Tagesausflug, wenn einer eine Reise tut, darf er uns davon erzählen
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Johanna
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Registriert: Mittwoch 14. Januar 2004, 15:04
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Mitnehmen kann man nichts

Beitrag von Johanna »

Auf der Weiterfahrt von Kassel über das Nonnenkloster Reichenbach kamen wir an einem Hinweisschild „Mausoleum“ vorbei. Wir folgten der Strasse und sahen am Ende durch ein Gitter in einer Anlage ein Mausoleum stehen. Es waren ebenfalls noch drei grosse Gebäude auf diesem Gelände. In diesem Mausoleum sahen wir eine Figur auf einem Podest. Das Tor war verschlossen, wir fanden keinen Eingang, aber wir waren neugierig und recherchierten im Netz. Dieses Mausoleum wurde für den Gründer einer Stiftung erbaut. George André Lenoire – er wurde 1825 in Kassel geboren und starb hochbetagt in Meran.
Als jüngerer Sohne einer wohlhabenden Familie wuchs George in Kassel auf und studierte Physik und Chemie am damaligen Polytechnikum, einem Vorläufer der heutigen Universität, an dem u. a. die Professoren Robert Bunsen und Friedrich Wöhler unterrichtet hatten. Danach setzte er seine Studien in Paris fort.
Um 1850 ließ George Lenoir sich in Wien nieder, nahm die österreichische Staatsbürgerschaft an und gründete dort ein Geschäft. Dieses Geschäft lag im 6. Bezirk in dem er noch 1886 als Hersteller "chemischer und pharmazeutischer Apparate" gemeldet war. 1855 hatte er u. a. die Österreich-Vertretung für die mikroskopischen Präparate der Schweizer Firma „Mikroskopisches Institut Engel & Co“. Mit seinen Produkten nahm er an mehreren Gewerbeausstellungen teil, unter anderem bei der Pariser Weltausstellung 1867.

In den 1850er Jahren betrieb er mit seinem nach Wien nachgezogenen Bruder zudem ein Verlagsgeschäft, das u. a. 1856 eine Sammlung von Lithografien prominenter Naturforscher herausbrachte. Diese Tätigkeit wurde jedoch durch den Tod seines Bruders im Juli 1872 beendet.

Bereits in den 1870-er Jahren hatte Lenoir ein grosses Vermögen angesammelt welches er in Immobilien investierte. Er erwarb zum Beispiel das Heilbad Sliatsch in der Slowakei und entwickelte es zu einem eleganten Modebad, welches die wohlhabenden Ungarn anzog.
1886 kaufte er die Bauruine des Grandhotel „Meraner Hof“,renovierte es und verkaufte das Hotel an einen Unternehmer aus Bad Homburg.

1888 wurden in Wien keine Gegenstände mehr hergestellt sondern nur noch die naturwissenschaftlichen Lehrmittel aller Art vertrieben. Im Alter von 63 Jahren verkaufte Lenoir seine Firmenanteile an seine Geschäftspartner und zog sich vollkommen aus Wien zurück.


In den 90er Jahren erkannte der Junggeselle „Mitnehmen kann man nichts“. Beeindruckt von den Ideen des Pädagogen Pestalozzi reifte in ihm die Idee, sein Vermögen für die Waisenkinder der Stadt Kassel einzusetzen.

1891 schrieb er an den damaligen Oberbürgermeister von Kassel: „Als bleibenden Ausdruck treuer Liebe und Anhänglichkeit biete ich meiner Vaterstadt Cassel an, auf meine Kosten die Gründung einer humanitäten Stiftung unter dem Namen der Brüder George und Conrad Lenoir, zum vornehmlichen Zwecke der Erziehung von Waisen ohne Rücksicht auf Confession, Orts- und Landeszugehörigkeit der Eltern...“.

Am 25. Oktober 1893 gründete er schließlich die rechtsfähige „Stiftung der Brüder George und Conrad Lenoir“ und überwies der Stadt Kassel hierzu zunächst 2 Millionen Goldmark. Später erhöhte er das Stiftungskapital auf 6,5 Millionen Goldmark, wodurch die noch heute größte Sozialstiftung in Hessen entstand.

Dass die Einrichtung nach Fürstenhagen kam, lag an dem Erwerb des Gutes Teichhof. Mit den Erlösen aus dem Kauf seiner Immobilien sollte der Betrieb des Waisenhauses sichergestellt werden. Hochbetagt konnte Lenoir erleben, wie in seiner Stiftung Kinder in familienähnlichen Gruppen heranwuchsen. Nach seinem Tod am 2. November 1909 in Meran, wurde er am 9. November im Mausoleum der Stiftung in Fürstenhagen beigesetzt.

Doch so sehr der gewiefte Geschäftsmann George André Lenoir sich auch bemüht hatte, sein Werk auf Dauer anzulegen, die geschichtlichen Veränderungen dieses Jahrhunderts führten schon bald nach dem ersten Weltkrieg dazu, dass das Vermögen zu einem großen Teil verlorenging.

Die von ihm errichteten Gebäude stehen heute unter Denkmalschutz. Sie haben eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Es waren unter anderem drei Waisenhäuser, der benachbarte Gut Teichhof, ein Pestalozzi-Denkmal, ein Wasserwerk, zwei Mühlen und eine Bäckerei. Später wurden die Häuser der Lenoirstiftung als Aus- und Übersiedlerwohnheim genutzt, da sie im Eigentum des Landes Hessen sind.
Die Gebäude stehen leer – der Rasen wird regelmässig gemäht – schade dass die Gebäude dem Verfall preisgegeben sind – was könnte man daraus machen sie mit Leben zu erfüllen…..

Heute Mittag haben wir das Mausoleum besichtigt. Der Herr, welcher das Grundstück rund um das Mausoleum in Ordnung hält hat uns „durch die Hintertür“ bis in das Mausoleum geführt und uns einiges zur Geschichte erzählt. Vieles kannte ich ja durch meine Recherchen bereits, aber dass die Stadt Kassel nach dem Tod des Lenoir das Hotel und alle anderen Immobilien verkaufte, das Geld für andere Zwecke verwendet hatte und sich heute auch nicht mehr um den Erhalt der drei grossen Häuser kümmert obwohl von der Stiftung immer noch genügend Geld (angeblich) vorhanden ist – das war mir unbekannt. Der Weg von dem mit einem schmiedeeisernen Zaun umgebenen Grundstück bis zum Mausoleum ist gepflastert. Über dem grossen gebogenen Eingang der von zwei dicken Säulen begrenzt ist steht „Friedhof der Stiftung der Brüder George u. Conrad Lenoir.“ Das Mausoleum selbst hat zwei grosse Gedenkplatten mit den Namen der Stifter Lenoir. Denn hier ruhen nicht nur die Stifter sondern auch deren Eltern. In der Mitte ein grosses Bild – es ist mehr wie eine plastische Abbildung – ein Relief aus weissem Marmor (?) ein Mann hält auf dem Arm ein kleines Kind und schaut zu seiner Rechten hinunter auf eine Person, welche zu seinen Füßen kniet. Mit seiner rechten Hand streicht er dieser Figur über den Kopf. Auf der anderen Seite hält sich ein Kind an seinem Umhang fest. Ein Bild vollkommener Harmonie.
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