Grüner, Künstler oder Hippie?

 

Ob Urlaub oder Tagesausflug, wenn einer eine Reise tut, darf er uns davon erzählen
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Johanna
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Registriert: Mittwoch 14. Januar 2004, 15:04
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Grüner, Künstler oder Hippie?

Beitrag von Johanna »

Die Veranstaltung Auftakt mit Dampf wollten wir uns nicht entgehen lassen. Wir suchten daher erst einmal die Nebengebäude bei welchen die Dampfloks auf der Drehscheibe zu sehen waren. Die Nebengebäude waren nicht zu sehen also fragten wir den Bahnhofsvorsteher. Erkennbar an seiner roten Mütze. Dieser stand mit ziemlich mürrischem Gesicht vor der Tür die zu seinem Dienstzimmer führte. Wir fragten – zeigten ihm auf einem kleinen Prospekt was wir suchten und dann kam die Auskunft: „Das weiss ich nicht“. Ein Herr, der sich in seinem Zuständigkeitsbereich nicht auskennt – toll!!

Also forschten wir weiter und erfuhren, dass diese Drehscheibe und die Nebengebäude mittlerweile nicht mehr der Bahn gehören sondern private Investoren zuständig sind. Nach einer Insolvenz ist die Deutsche Privat Bahn mit neuem Namen auferstanden. Wir liefen am Bahngleis bis zu diesen Nebengebäuden. Der Weg dorthin Schotter, nur teilweise glatt – mühselig für Uwe den Rollstuhl zu schieben.

An der Drehscheibe angekommen lief ich mit Gehhilfe zwischen den Lokomotiven und schaute mir alles interessiert an. Schwarze Schönheiten! Sehr gepflegte alte Damen standen hier. Die Nummern waren vorne auf dem Kessel zu lesen z.B. 078 468-6. Schilder erklärten die Baureihen der Lokomotiven.
Die Baureihe E10/110 waren gebaut um die leistungsschwächeren Lokomotiven der Vorkriegsbaureihen E16, E17, E18 im schweren Schnellzug- und Eilzugdienst abzulösen. Die im Jahr 1962 gelieferten Lokomotiven E10 1239 bis E10 1244 waren zunächst mit einer Geschwindigkeit von max. 160 km/h ausgerüstet, um die neuen Starzüge F9/10 „Rheingold“ und F163/164 „Loreley-Express“ der jungen Bundesbahn zu befördern. Aber auch im Nahverkehr und vor Expreßgüterzügen wurden diese Lokomotiven mit dem eleganten Farbdesign eingesetzt. Die Historie besagt dass 1968/69 auf neue Computernummern umgestellt wurde. 1976 wurde auf Ozeanblau/beige umlackiert und 2002 in verkehrsrot die Farbe nochmals verändert.

Eine Lok wurde mit Steinkohle beladen. Ein Kran hob einen Sack mit einer Tonne Kohle über den Tender und liess alles dann in den Tender hineinfallen – das geschah noch zweimal. Also insgesamt 3 Tonnen – aber sehr lange kam diese Lok mit dem Heizmaterial nicht aus wie uns einer der Führer mitteilte. Die Steinkohle kam aus Polen, weil es in Deutschland keine Möglichkeit mehr zum Bezug gibt.


Auf den „normalen Bahnsteigen des Bahnhofs konnten wir verschiedene Lokomotiven begutachten – bei einigen war das erklettern zum Führerstand erlaubt und hier drängten sich besonders die jugendlichen Buben mit ihren Vätern. Auch konnten sich manche Jungen als Lokomotivführer fühlen wenn sie auf dem Fahrersitz Platz nahmen und Schalter und Hebel unter Aufsicht bedienen durften.
Wir schauten uns die ganzen aufgestellten Lokomotiven an – gingen bis zur letzten Maschine und blieben dort, harrten der Dinge die da kommen.

Denn auf diesem Bahnsteig waren Tische mit Hussen „verschönt“ also sollte hier wohl der Festakt beginnen. Es kamen die ersten Musiker mit ihren Instrumentenkoffern. Es wurde nach Stühlen gefragt – ein Musiker ging und organisierte einige Sitzgelegenheiten. Es wurden die Notenständer ausgepackt, die Notenblätter mit Wäscheklammern fixiert. Denn der Wind blies immer wieder einige der Blätter um. Dann kam ein Herr, der in die Runde fragte: wo ist hier der Anfang? Uwe deutete direkt vor uns und sagte:“Hier – wir sind schon Zuschauer“. Daraufhin packte dieser Herr sein Notenpult vor uns aus, stellte es auf, holte aus seinem Köfferchen den Taktstock und viele Notenbücher – blätterte herum und unterhielt sich dann mit seinen Musikern. Dies war der Dirigent.
Einer der Musiker kam etwas später, fragte sich durch – schlängelte sich an uns vorbei und nahm seinen Platz weiter hinten ein. Zuerst dachte ich:“Oh wei Blasorchester, rum-ta-ta-musik“ – aber ich hatte mich getäuscht und wie ich mich getäuscht hatte!

Zu korrekter Zeit fing das Orchester zu spielen an – wir hatten Logenplätze genau neben einer der Flötistinnen! Unter anderem wurde ein Medley von Abba – ein Medley von Udo Jürgens und Fernando oder ein Medley von der Gruppe Purple gespielt. Dazwischen kam eine der Damen der Bundesbahn – schickte die sich vorgedrängten Besucher nach hinten, mit der Bemerkung dass jetzt die Redner kommen und dafür einigen Platz benötigen würden. Uwe und ich durften allerdings da stehen/sitzen bleiben wo wir waren. Wir hatten die besten Plätze, konnten alles gut beobachten.

Dann kamen die Herren an – Einer hatte einen schwarzen Anzug an, war wohlbeleibt und hatte wegen der Sonneneinstrahlung einen Strohhut auf. Uwe vermutete – das ist ein Grüner! Ein anderer, sehr junger Mann im dunklen Anzug, kaum einzuschätzen welche Rolle er hier spielte – ein weiterer Herr bei dem man nicht wusste ob er Künstler oder Hippie ist. Seine Haartracht war dementsprechend lang, zottelig, er sah ungepflegt aus.

Uwe stellte dem Herrn mit dem Strohhut eine Frage, weil er dachte dass dieser ein Mitglied der Grünen Partei wäre. „Sag mal, dürfen diese Dampfloks auch in die Innenstadt nach Stuttgart fahren?“ Der distinguierte Herr verzog kaum eine Mine – schaute verdutzt und Uwe zog sich zurück. Ein weiterer Herr kam an, schnappte sich das Mikro und begann eine Rede, stellte die anwesenden VIP-Leute vor und es stellte sich heraus, dass der Herr mit Strohhut der Erzbischof war. Der Bürgermeister von Altenbeken betonte dass dieses Event bereits zum 9. Mal stattfinden würde.

Die nächste Überraschung – der ungepflegte Zottelhaarträger war der Bahnhofsmanager und der Jüngling unter den Anwesenden Vip-Leuten war ein Bundestagsabgeordneter aus dem Kreis Altenbeken. Der Bürgermeister begann mit seiner Rede über die Anfänge des Bahnhofes zu sprechen – erwähnte die Geschichte des Ortes und übergab dem Erzbischof das Mikrofon. Dieser beschränkte sich den Zusammenhang mit dem Ort und der Eisenbahn auf das Kinderbuch Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer herzustellen. Der Bahnhofsmanager redete ziemlich lange über die Entwicklung des Bahnhofs und des Ortes, las dies aus einem Informationsheft vor, welches vor ihm auf dem Tisch lag. Nicht einmal einige Informationen hatte dieser Manager auswendig gelernt…..es wurde noch erwähnt dass man so ein Informationsheft auch am Bahnhof erstehen kann.

Ein Tablett mit gefüllten Sekgläsern, Sektgläsern mit Orangensaft und Sekt wurde den Honorationen gereicht und Uwe fragte mich flüsternd: „Möchtest Du ein Glas Sekt?“ Er brachte dann für mich ein Glas mit Orangensaft und Sekt an – anschliessend noch eine kleine Flasche Wasser die er sich ebenfalls von einem der Tabletts nahm. Wir lachten weil Uwe meinte:“Wenn die Bahn was ausgibt dann muss man zugreifen“ Wir liessen es uns schmecken. Der Rollstuhl hatte uns wieder mal einen Vorteil eingebracht. Die leeren Gläser und Flaschen stellte er direkt auf den Tisch vor den Platz des Erzbischofs. So schnell wie diese Gläser weggeräumt wurden konnte man gar nicht schauen, denn auch die Kameras waren auf die VIP-Leute gerichtet…….
Wir sassen eben diesmal auf der richtigen Seite – die anderen Zuschauer bekamen nichts, weder Sekt noch Orangensaft oder Wasser.

Nach diesem Konzert verliessen wir den Bahnsteig und gingen in die „Lounge“. Hier waren Sitzmöglichkeiten (Palettensessel) und wir ergatterten in dem dazu gehörigen Kiosk noch das Informationsheft vom Vivat Viadukt – Spatenstich Modernisierungsoffensive 2 Bahnhofsjubiläum und Jubiläum Rehbergtunnel Altenbeken von 2015. Die Dame übergab uns diesen Prospekt mit den Worten: Sie haben Glück, ich habe davon nur noch 4 Exemplare!
Meine Antwort:“Wir fühlen uns geehrt, dass Sie uns ein Exemplar überlassen“.
Da wird bekannt gegeben dass man so ein Informationsheft erhalten kann und dann sind nur noch 4 Exemplare davon da – die Zuhörerschaft war aber um einiges grösser – obwohl ich bezweifle, dass sich viele Besucher so ein Informationsheft besorgen wollten.

Diese „Lounge“ wurde gegen 17 Uhr geschlossen und wir standen vor dem Problem wie wir die Zeit bis zum warm-up mit den Goodbeats und der Cabaret-Revue ab 19 Uhr überbrücken sollen. Wir entschlossen uns dann, in die gebuchte Gastwirtschaft nach Schlangen zu fahren, etwas zu essen – der Tag war lang genug.

Das war auch unser Glück, denn als wir uns eine kurze Zeit später in unserer „Herberge“ aufhielten regnete es in Strömen.
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