Wahre Größe erkennen

 

Ob Urlaub oder Tagesausflug, wenn einer eine Reise tut, darf er uns davon erzählen
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Johanna
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Registriert: Mittwoch 14. Januar 2004, 15:04
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Wahre Größe erkennen

Beitrag von Johanna »

Wahre Größe erkennen

Sonntag, Sonnenschein. Kalt ist es, einige Minusgrade haben wir, aber weil die Sonne scheint ist es für uns fast selbstverständlich einen Ausflug zu unternehmen.
Mitte Dezember 2023 habe ich unter dem Titel „Spender gesucht“ bereits einmal versucht das Innenleben einer Orgel zu beschreiben.

Jetzt haben wir es wahr gemacht und sind nach Borgentreich gefahren. Borgentreich gründete 1994 einen Förderverein mit dem Ziel die Restaurierung der hochberühmten Springladenorgel zu unterstützen. Diese doppelte Springladenorgel ist die grösste der Welt und man kann sie in der dem Museum gegenüberliegenden Kirche betrachten. Von aussen sieht man ihr diese Einzigartigkeit überhaupt nicht an – das Innenleben macht es aus. Das Orgel-Herzstück sind die Windladen. Diese Kirchenorgel präsentiert eine äusserst seltene Ladenbauform und mit 6 doppelten Springladen den weltweit grössten Bestand. Neben dieser Fertigungsweise sind die Pfeifen mit ihren 45 Registern sehr kostbar, denn einige Pfeifenreihen gehen bis in ihren Ursprung um 1600 zurück. Diese „Königin der Instrumente“ besitzt 3002 klingende und 17 stumme Pfeifen.

Im Museum gegenüber fällt einem sofort ein grosser Pfeiler im Eingangsbereich auf. Wie wir später erfuhren ist dies die grösste der in Borgentreich hergestellten Pfeifen und bei einer Demonstration konnten wir das tiefe Brummen des 20 Meter-kolosses förmlich im ganzen Körper spüren. Es hörte sich an wie das tiefe Brummen der Elefanten, die ja durch Infraschall eine ganz andere Frequenz belegen wie die menschliche Stimme.
Wir begannen unseren Rundgang – die Dame an der Kasse war sehr bemüht und erklärte uns sehr viel über die Geschichte. Nur anschauen? Nein – hier wird man in diesem Museum aufgefordert auch mitzumachen – d.h. wir durften alle – oder sagen wir fast alle Instrumente und Teile einer Orgel auch in Bewegung setzen um die ganzen Unterschiede der Funktionen zu sehen.

Praetorius sagte bereits 1619 dass die Orgel mit dem menschlichen Leib verglichen wird. So zeigen die Blasebälge die Lunge an, die Pfeifen die Kehle oder Luftröhre und die Klaviertasten kommen gar fein mit den Zähnen überein.“
Und genau das ist es - eine Orgel ist ein Blasinstrument mit Tasten, die Luft wird durch Blasebälge geschöpft und durch Pfeifen strömt dann diese komprimierte Luft und bringt sie als Klangerzeuger oder Stimmorgan zum klingen.
Jede dieser Pfeifen ist durch ein Ventil abgesperrt und stehen mit den Klaviertasten in Verbindung.
Die Orgel hat aber nicht nur ein Manual – Klaviertastenreihe, sondern sie kann mehrere haben. Das gleiche gilt für die Fußpedale.
Wenn man eine Taste drückt und das konnten wir in diesem Museum ausgiebig tun, dann öffnet sich über eine mechanische, pneumatische oder elektrische Verbindung dieses Ventil und die betreffende Pfeife erklingt. Das ganze nennt man dann auch Traktur und davon gibt es unterschiedliche Ausführungen.
Ich weiss nicht ob ihr das noch kennt, dass neben dem Organisten ein Junge auf der Empore den Blasebalg treten musste, damit der Kantor überhaupt auf der Orgel spielen konnte. Im Museum ist der Magazinbalg einer Orgel von 1890 aufgebaut an dem man durch Betätigen des Fußhebels Luft in das Magazin pumpen konnte. Durch verschieben eines Knaufs auf dem Balg strömte die Luft durch den Kanal in die Holzpfeife, die weiter weg an der Wand hing – so hörte man den Klang.

Zuerst gab es nur die Kastenbälge und bis zur Einführung der Elektrizität war der Organist immer auf die Mithilfe der Konfirmanden (Junge oder Kalkanten) und ihre Muskelkraft angewiesen.

Der Mechaniker Ktesibios (285-222 v.Chr.) aus Alexandria kann als Erfinder der Orgel angesehen werden. Das Wellenbrett wurde um 1300 erfunden; bis dahin konnte das Pfeifenwerk nur in einer Reihe, von links (die großen Pfeifen) nach rechts (die kleinen Pfeifen) angeordnet werden. Diese Erfindung hat den Orgelbau bahnbrechend revolutioniert.
Bei einer westfälischen Dorfkirchenorgel um 1850 waren wenige Registerzüge und diese mit einem geringen Tastenumfang sehr einfach und überschaubar gebaut. Der Spieltisch war seitlich am Gehäuse der Orgel angebracht. Zur Herstellung der Verbindung von den Tasten zu den Tönen benötigte der Orgelbauer daher einen sogenannten Wellenrahmen.

Im 19. Jahrhundert wurde die Barkermaschine erfunden. Der Name kommt von dem Erfinder – denn zu dieser Zeit erschwerten immer grössere Orgeln die Spielweise bei den rein mechanischen Verbindungen. 1842 wurde dann vom Orgelbauer Cavaille Coll diese Barkermaschine erstmalig in Paris verwendet. Ein grosses Baumuster dieser Barkermaschine ist auch hier in diesem Museum.

Da die Musik weitaus mehr zu bieten hat wurde ein Vibrato der Orgel eingebaut. Seit dem Mittelalter versetzten die Tremulanten den starren Orgelton in ein Zittern. Sie gleichen ihn dadurch dem Vibrieren der Menschenstimme oder dem Vibrato eines Geigers (Streichers) an.

In einem Raum waren die unterschiedlichen Orgelregister aufgebaut und wir konnten alle – wirklich alle! ausprobieren.
Ein Register ist eine Pfeifenreihe gleicher Form und Bauart und damit gleicher Klangfarbe. Da aber jedes Register im allgemeinen über 56 Pfeifen verfügt, haben bereits kleine Orgeln meist einige hundert, grosse Orgeln sogar mehrere tausend Pfeifen.
Es gibt Lippenpfeifen (Labiale) wie man sie von der Blockflöte kennt. Sie bilden den grössten Pfeifenbestand einer Orgel. Dann gibt es Zungenpfeifen Linguale genannt – diese erzeugen den Ton durch ein schwingendes Messingblättchen welches dem Rohrblatt eines Holzblasinstgrumentes oder einer Mundharmonika ähnelt.
Bei den Labialpfeifen wird der Ton durch die Bauform : offen, gedeckt oder halbgedeckt – bestimmt. Daneben spielt das Material auch noch eine Rolle. Es gibt Holzpfeifen, Metallpfeifen. Alle klingen etwas anders – der Ton manchesmal warm, verhalten, dröhnend oder sehr leise. Der Durchmesser der Pfeife im Verhältnis zur Länge oder die Ausgestaltung des Labiums – breiter oder schmaler Pfeifenmund – sind sie gedeckelt oder nur halb gedackt oder ist der Aufschnitt hoch oder niedrig – alles spielt bei der Klangfarbe eine Rolle. Gedeckte Register brauchen für die gleiche Tonhöhe nur die halbe Körperlänge.
Die menschliche Stimme wurde auch „nachgebaut“ und das zwitschern eines Vogels klang mir schrill in den Ohren…..

Im Gegenzug dazu ist bei den Zungenpfeifen (Lingualpfeifen) im Kopf aus Metall oder Holz der den Stiefel nach oben dicht abschliesst – nach unten die Kehle eingesetzt. Die Metallzunge, die leicht abgebogen auf der Kehlenöffnung aufliegt, wird durch den Keil im Kopf befestigt. Die verschiebbare Stimmkrücke bestimmt die Länge des schwingenden Teils der Zunge und somit die Tonhöhe. Ein Orgelbauer muss also ein sehr feines Gehör haben.

Ausserdem werden bei den Pfeifen auch die unterschiedlichsten Musikinstrumente nachgeahmt. Kontrabass oder Violoncello, Viola oder Violine, Tenor oder Altflöte -
Jedes Orgelregister kann theoretisch als Sopran, Alt, Tenor oder Bassinstrument erklingen. Die Unterschiede werden in der Orgeldisposition mit Zahlen in Fuß angegeben. Dieses alte Längenmass bezeichnet die Länge der tiefsten (längsten) Pfeife auf der tiefsten Taste. Ein Fuß ist ungefähr 0,30 m lang – deswegen ist die tiefste Pfeife eines Registers mit 8 Fuß ca. 2,40 m lang (8 x 0,30 = 2,40)
Übertragen auf die Instrumente entsprechen 8 Fuss einer Tenorflöte oder dem Cello, Register zu 4 Fuss klingen eine Oktave höher Altflöte oder Viola und Register zu 2 Fuß zwei Oktaven höher: Sopranflöte oder Violine. Aus diesem Grund verfügt die Orgel über einen Tonumfang der weit über ihren Tastenumfang hinausgeht.
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